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Polio (Kinderlähmung)

Wie häufig treten Komplikationen und Folgeerscheinungen bei einer Polio-Infektion auf? Was ist die vakzinassoziierte Poliomyelitis (VAPP)? Ist eine Eradikation bei Polio möglich und wenn ja, bis wann? In welchen Ländern ist Polio noch endemisch? Wie sieht die aktuelle STIKO-Empfehlung aus? 

Antworten auf diese und weitere Fragen finden Sie im nachfolgenden Fachbeitrag.

Vorbemerkung

Die folgenden Ausführungen dienen der Information und ersetzen keinesfalls das ärztliche Beratungsgespräch. Hier werden Fakten präsentiert, die Eltern wie auch Ärztinnen und Ärzten in einem Aufklärungsgespräch helfen können. Ärztinnen und Ärzte für individuelle Impfentscheidung e. V. (ÄFI) übernimmt keine Garantie für Vollständigkeit, hat die hier verfügbaren Inhalte jedoch nach bestem Wissen und Gewissen am aktuellen Fach- und Sachstand zusammengetragen. Über die wissenschaftliche Arbeit des Vereins erfahren Sie hier mehr. Der Fachbeitrag wird jährlich aktualisiert. Das dargelegte Wissen entspricht dem Kenntnisstand zum angegebenen Veröffentlichungs- bzw. Aktualisierungsdatum. Weitere Informationen erhalten Sie auch in unserem Podcast.

Im Podcast anhören

Fachbeitrag

  • Polio: Die Erkrankung

    Erreger

    • Polioviren sind Einzelstrang-RNA-Viren mit einer Größe von 25 bis 30 nm, ohne Lipidhülle und gehören zur Gattung Enterovirus der Familie der Picornaviridae (Mehndiratta et al., 2014).
    • Es wurden drei verschiedene Serotypen des „wild poliovirus“ identifiziert – WPV1, WPV2 und WPV3.
    • Die 1988 gegründete Globale Initiative zur Ausrottung der Poliomyelitis (GPEI) führte zur Ausrottung von WPV2 im Jahr 2015 und WPV3 2019 (Mbani et al., 2023).
    • Menschen stellen das einzige Reservoir des Erregers dar.

    (Robert Koch-Institut, 2021)
     

    Infektionsmodus

    • Die Übertragung erfolgt wie bei Enteroviren üblich hauptsächlich fäkal-oral, z. B. über kontaminierte Nahrungsmittel und Wasser.
    • Die Inkubationszeit variiert zwischen 2 und 35 Tagen (Mehndiratta et al., 2014), durchschnittlich liegt sie bei 6 bis 9 Tagen für die abortive, bei 3 bis 6 Tagen für die nicht-paralytische und bei 7 bis 14 Tagen für paralytische Poliomyelitis (Robert Koch-Institut, 2021).
    • Solange das Virus ausgeschieden wird, ist eine Ansteckung möglich. Im Rachen ist das Poliovirus etwa 36 Stunden bis eine Woche nach Infektion nachweisbar, im Stuhl etwa 2, 3 Tage bis 6 Wochen. Bei einer Immundefizienz kann die Ausscheidung dagegen sogar Monate und Jahre andauern (Robert Koch-Institut, 2021).
       

    Infektionsverlauf

    • Der Anteil der asymptomatischen Fälle an allen Infektionen beträgt bei Erwachsenen über 95 % (Rasch et al., 2001; Mehndiratta et al., 2014).
    • Bei Kindern beträgt dieser Anteil nur 70 %, da es häufiger zu einem milden biphasichen Verlauf kommt (Centers for Disease Control and Prevention, 2021).
    • Dabei kommt es zur Ausbildung neutralisierender Antikörper (stille Feiung) (Robert Koch-Institut, 2021).

    Bei symptomatischen Fällen kann zwischen drei verschiedenen Arten unterschieden werden, die auch jeweils eine unterschiedliche Inkubationszeit aufweisen (s. Infektionsmodus):

    • Abortive Poliomyelitis: In 4 bis 8  % der Fälle bei Erwachsenen kommt es zu dieser milden, unspezifischen Form der Virämie, die mit Gastroenteritis, grippeähnlichen Beschwerden und leichten Infektionen der Atemwege einhergeht (Mehndiratta et al., 2014). Bei Kindern ist der Anteil mit 24 % sehr viel höher, die Manifestation von Fieber und Halsschmerzen aber absolut harmlos. In weniger als einer Woche tritt dabei eine vollständige Genesung ein (Centers for Disease Control and Prevention, 2021).

    Wenn die Polioviren das zentrale Nervensystem (ZNS) erreichen, kommt es nach der abortiven Poliomyelitis zur

    • nicht-paralytischen Poliomyelitis, auch als aseptische Meningitis bezeichnet, die bei 1 % der Fälle bei Erwachsenen und 1 bis 5 % der Fälle bei Kindern als Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelspasmen auftritt und nach 2 bis 10 Tagen wieder verschwindet oder 2-3 Tage später zur
    • paralytischen Poliomyelitis führt, die bei weniger als 1 % aller Infektionen auftritt. Diese schwere Art der Virämie unter ZNS-Beteiligung ist durch extreme Schmerzen und Schmerzschübe im Bereich des Rückens, Nackens und der unteren Gliedmaßen gekennzeichnet.

      Weiterhin muss zwischen drei verschiedenen Formen differenziert werden. Die spinale Form ist mit 79 % der identifizierten Fälle zwischen 1969 und 1979 am häufigsten und löst asymmetrische Lähmungen aus, die insbesondere die Beine betreffen. Die bulbäre Form ist mit 2 % am seltensten und löst charakteristisch eine Schwäche der Gesichts-, Mund- und Atemmuskulatur aus. Die bulbospinale Form lässt sich als Kombination der beiden vorherigen Formen auffassen und macht etwa 19 % der Fälle aus.

      (Mehndiratta et al., 2014; Centers for Disease Control and Prevention, 2021)

    Außerdem kann es zu Folgeerscheinungen kommen, die unter dem Post-Poliosyndrom (PPS) zusammengefasst werden:

    • Dabei handelt es sich um eine neurologische Störung, die noch viele Jahre oder Jahrzehnte nach einer paralytischen Poliomyelitis auftreten kann und mit einer Schwäche bzw. Muskelermüdung und -abnahme (Atrophie) einhergeht.
    • Weitere Symptome sind Myalgie, Atemnot, Gelenkschmerzen, Dysphagie und allgemeine Müdigkeit.
    • Schätzungen zufolge sind etwa 15 bis 80 % der Überlebenden einer paralytischen Poliomyelitis von PPS betroffen. Die hohe Schwankung ergibt sich aus den Unterschieden der untersuchten Populationen. Bevölkerungsbezogene Studien kommen dabei auf einen Wert von 29 bis 31 % bzw. 42 %.
    • Dass die Poliovirus-Infektion persistiert und dadurch PPS ausgelöst wird, ist nicht bewiesen.
    • Der Verlauf ist multifaktoriell beeinflusst und hängt bspw. von dem Schweregrad der paralytischen Poliomyelitis, dem Alter zu Beginn der Erkrankung und dem sozioökonomischen Status ab.

    (Lo & Robinson, 2018; Robert Koch-Institut, 2021; Wolbert & Higginbotham, 2023)

     


    Abbildung 1: Flussdiagramm zur Darstellung des Infektionsverlaufes einer Polio-Infektion bei Erwachsenen, eigene Darstellung.
     

    Abbildung 2: Flussdiagramm zur Darstellung des Infektionsverlaufes einer Polio-Infektion bei Kindern, eigene Darstellung.
     

    Pathogenese & Komplikationen

    • Der Begriff Poliomyelitis leitet sich vom griech. polios (grau) und myelos (Mark) ab und weist dadurch darauf hin, dass es sich bei der Erkrankung um eine Zerstörung der Nervenzellen in der grauen Substanz des Hinterhorns im Rückenmark handelt.
    • Nach Aufnahme von Polioviren in den Körper erfolgt die Vermehrung im gastrointestinalen oder respiratorischen Epithel – dabei vor allem in den Mandeln (Tonsillen), den Lymphknoten des Halses und anschließend in den Peyer-Drüsen im Dünndarm. Dort verursacht es gar keine oder nur sehr milde Symptome.
    • Über das Lymphsystem und den Blutkreislauf gelangen die Viren in andere Bereiche des Körpers (Gewebe, Organe etc.).
    • Polioviren können das zentrale Nervensystem (ZNS), insbesondere das Rückenmark erreichen und dabei ihre primären Zielzellen, die motorischen Neuronen, zerstören (zythopatischer Effekt).
    • Neben Lähmungen kann es dabei auch zu tödlichen Atemwegserkrankungen oder kardiovaskulärem Kollaps kommen. Für PPS werden auch Atemversagen, Knochenbrüche und Gedeihstörungen als Komplikationen gelistet.
    • Die Pathogenese des PPS ist letztlich nicht vollständig geklärt. Die bewährteste Theorie nach Wiechers und Hubell besagt, dass es durch die Vergrößerung der motorischen Einheiten im Zuge der Polio-Infektion zu einer distalen Degeneration kommt. Neuere Studien unter Verwendung der Elektromyographie unterstützen diese Theorie, da das Verfahren auf eine erhöhte Instabilität der neuromuskulären Verbindung hinweist. Körperliche Inaktivität und altersbedingte Sarkopenie können dabei ebenfalls eine Rolle spielen.

    (Blondel et al., 2005; Lo & Robinson, 2018; Mbani et al., 2023; Wolbert & Higginbotham, 2023)
     

    Prävention

    • Die sicherste Präventionsmethode stellen die vorhandenen Impfstoffe dar (Mbani et al., 2023), s. Polio: Die Impfung.
    • Auch wenn alkoholbasierte Handdesinfektionsmittel Polioviren nicht abtöten, bleiben hygienische Bedingungen (z. B. regelmäßiges Händewaschen mit Wasser und Seife) wie bei vielen viralen Erkrankungen wichtig (Centers for Disease Control and Prevention, 2023).
       

    Prognose

    • Die Fallsterblichkeit für Fälle mit paralytischer Poliomyelitis wird mit 2 bis 5 % für Kinder und 15 bis 30 % für Jugendliche und Erwachsene angegeben (Centers for Disease Control and Prevention, 2021).
    • Die bulbäre Poliomyelitis hat eine schlechtere Prognose als die anderen Formen aufgrund der Schädigung von zerebralen bzw. vegetativen Nervenzentren (Robert Koch-Institut, 2021).
       

    Therapie

    • Symptomatische, unterstützende Behandlung – bisher sind keine antiviralen Medikamente gegen Poliomyelitis zugelassen.
    • Das umfasst in der Akutphase Maßnahmen zur Fiebersenkung und Irritationslinderung, Vorbeugung von Atemwegsinfektionen und ggf. Verringerung von Schmerzen und Krämpfen, z. B. in Form von Beinschienen.
    • Schienen bzw. Orthesen können auch bei der Vorbeugung und Behandlung von Deformitäten helfen. Auch chirurgische Eingriffe können dabei helfen, indem sie das Gleichgewicht der Muskulatur um das Gelenk herum wiederherstellen.
    • In der Rekonvaleszenz-Phase können tägliche Trainingsprogramme wie submaximales aerobes Training oder Muskeltraining mit geringer Intensität dabei helfen, die Überlastungsschwäche der Muskulatur und das kardiorespiratorische System zu therapieren. Aquafitness scheint zudem einen positiven Einfluss auf die Muskelfunktion sowie das Schmerzempfinden zu haben.

    (Tiffreau et al., 2010; Wolbert & Higginbotham, 2023)
     

    Epidemiologie

    • 1988 gab es 350.000 Fälle von endemischer Poliomyelitis in 125 Ländern. Die Weltgesundheitsversammlung beschloss in demselben Jahr die vollständige Eradikation des Poliovirus.
    • Die routinemäßige Verabreichung der zur Verfügung stehenden Impfstoffe im Kindesalter hat zur Reduktion um 99 % auf weltweit 33 Fälle im Jahr 2018 geführt.
    • Von den drei Wildtypen ist nur noch Seroryp 1 in Umlauf, welcher in Pakistan und Afghanistan als endemisch gilt (Wolbert & Higginbotham, 2023).
    • 2021 wurden 5 Infektionen in Pakistan und Afghanistan gemeldet, zudem auch 1 Fall in Namibia (nicht-endemisches Land). 2022 wurden 2 Fälle in Afghanistan, 20 in Pakistan und 6 Fälle in Mosambik (nicht-endemisches Land) gemeldet. Zwischen Januar und Mai 2023 wurde bisher erst 1 Fall in Pakistan gemeldet.
       

    Abbildung 3: Vergleich der weltweiten Polio-Infektion zwischen 1988 (a) und 2021-2023 (b) (Mbani et al., 2023).

    • Im Mai 2014 hat die WHO den öffentlichen Gesundheitsnotstand von internationaler Tragweite (PHEIC) für Polio deklariert – dieser hält als bisher längster und einziger bis heute an, da der Gesundheitsnotstand für COVID-19 und Affenpocken im Mai 2023 beendet wurde. Der Gesundheitsnotstand wird voraussichtlich dann aufgehoben werden, wenn auch der dritte und letzte Wildtyp ausgerottet wurde (World Health Organization, 2023b).

    Gesundheitlicher Notstand

    Ausrufung

    Beendigung

    Dauer

    Influenza-Pandemie H1N1 2009 bis 2010

    25. April 2009

    10. August 2010

    351 Tage

    Poliomyelitis 2014 bis dato

    5. Mai 2014

    andauernd

    > 9 Jahre

    Ebolafieber-Epidemie 2014 bis 2016

    8. August 2014

    29. März 2016

    1 Jahr und 235 Tage

    Zikavirus-Epidemie 2015 bis 2016

    1. Februar 2016

    18. November 2018

    2 Jahre und 291 Tage

    Ebolafieber-Epidemie 2018 bis 2020

    17. Juli 2019

    26. Juni 2020

    346 Tage

    COVID-19-Pandemie 2020 bis 2023

    30. Januar 2020

    5. Mai 2023

    3 Jahre und 96 Tage

    Affenpocken-Ausbruch 2022 bis 2023

    23. Juli 2022

    11. Mai 2023

    293 Tage


    Tabelle 1: Bisherige gesundheitliche Notlagen internationaler Tragweite (PHEIC), ausgerufen und beendet durch die WHO, eigene Darstellung.

    • Die letzte Polio-Infektion wurde in Deutschland 1990 erfasst, 1992 wurden die letzten importierten Fälle aus Ägypten und Indien gemeldet (Robert Koch-Institut, 2021).
    • Jedoch gibt es durch die eingesetzten oralen Polioimpfstoffe (OPV) Fälle von sogenannter vakzinassoziierter Poliomyelitis (VAPP). Dabei handelt es sich um ein natürliches Phänomen der Enteroviren: Die Variabilität und schnelle Evolution der Polioviren kann bei Verabreichung der OPV zur Replikation und Entstehung („Rückmutation“) eines pathogenen Phänotyps führen („vaccine‐derived polioviruses“, VDPVs), der klinisch ähnlich verläuft wie der Wildtyp (Mbani et al., 2023).
    • Unterschieden wird zwischen drei verschiedenen Kategorien: Das zirkulierende VDPV (cVDPV), das sich in einer Gemeinschaft mit niedrigen Impfraten verbreitet, das mit Immunschwäche assoziierte VDPV (iVDPV) und ein noch nicht näher bestimmtes VDPV (aVDPV), bei dem es sich z. B. um ein Abwasserisolat handeln könnte. Die Ausbrüche von cVDPV können durch alle drei OPV-Serotypen verursacht sein.
    • Zwischen Januar 2021 und Mai 2023 wurden in 36 Ländern weltweit 2141 VAPP-Infektionen registriert (Mbani et al., 2023).
       

    VDPV

    Länder

    Anzahl Fälle

    Environmental Samples

      

    AFP Fälle

    Nicht-AFP Fälle

     

    cVDPV1

        
     

    Madagaskar

    36

    37

    168

     

    Malawi

    4

    1

    0

     

    Demokratische Republik Kongo

    156

    5

    0

     

    Mosambik

    25

    1

    0

     

    Kongo

    1

    0

     
     

    Jemen

    3

    0

     

    cVDPV2

        
     

    Benin

    16

    3

    12

     

    Burkina Faso

    2

    0

    1

     

    Guinea

    6

    0

    2

     

    Guinea-Bissau

    3

    1

    0

     

    Burundi

    1

    2

    13

     

    Botsuana

    0

    0

    5

     

    Algerien

    3

    5

    26

     

    Zentralafrikanische Republik

    10

    1

    9

     

    Kamerun

    6

    3

    1

     

    Tschad

    50

    7

    6

     

    Elfenbeinküste

    1

    0

    3

     

    Demokratische Republik Kongo

    412

    37

    13

     

    Kongo

    2

    0

    3

     

    Eritrea

    2

    0

    0

     

    Äthiopien

    11

    0

    0

     

    Ghana

    3

    4

    19

     

    Mauretanien

    0

    4

    7

     

    Mosambik

    6

    0

    0

     

    Malawi

    0

    0

    1

     

    Niger

    33

    4

    15

     

    Nigeria

    467

    234

    397

     

    Senegal

    17

    34

    15

     

    Sambia

    0

    0

    3

     

    USA

    1

    0

    14

     

    Kanada

    0

    0

    2

     

    Dschibuti

    0

    0

    19

     

    Ägypten

    0

    0

    18

     

    Mali

    2

    0

    0

     

    Somalia

    8

    4

    7

     

    Sudan

    1

    0

    1

     

    Jemen

    228

    50

    38

     

    Israel

    1

    0

    55

     

    Vereinigtes Königreich (UK)

    0

    0

    6

     

    Ukraine

    2

    18

    0

     

    Indonesien

    4

    10

    0

     

    Uganda

    0

    0

    2

     

    Gambia

    0

    0

    9

     

    Pakistan

    8

    0

    35

     

    Tadschikistan

    35

    22

    17

     

    Afghanistan

    43

    2

    40

     

    Sierra Leone

    5

    8

    9

     

    Liberia

    3

    5

    14

     

    Südsudan

    9

    5

    0

     

    Iran

    0

    0

    0

     

    Kenia

    0

    2

    1

     

    Togo

    2

    0

    2

    cVDPV3

        
     

    Israel

    1

    3

    30

     

    Palästinensische Autonomiegebiete 

    0

    0

    16

     

    China

    0

    0

    1

    Summe

     

    1629

    512

    1055


    Tabelle 2: Anzahl der zirkulierenden cVDPV-Fälle weltweit zwischen Januar und Mai 2023, modifiziert (Mbani et al., 2023). *AFP = Acute flaccid paralysis (Akute schlaffe Parese bzw. Poliomyelitis).

    • In Deutschland traten jährlich bis zu 3 VAPP-Infektionen auf, was 1998 schließlich zur Aufhebung der Impfempfehlung von OPV durch die STIKO führte (für mehr Infos s. Polio: Die Impfung).
  • Polio: Die Impfung
    • Bei den Polio-Impfstoffen unterscheidet man zwischen oral verabreichten (OPV) und intramuskulär verabreichten (IPV).
    • IPV benötigen Aluminium-Hydroxid als Adjuvans.
    • In Deutschland sind drei IPV-Einzelimpfstoffe gegen Poliomyelitis verfügbar (Imovax Polio, IPV Merieux, Poliovaccine AJV) (Paul-Ehrlich-Institut, 2023).
    • Sie sind ab 2 bzw. 3 Monaten Lebensalter zugelassen (Paul-Ehrlich-Institut, 2023).
    • Alle anderen Impfstoffe enthalten mindestens Komponenten gegen Tetanus und Diphtherie (Paul-Ehrlich-Institut, 2023).
    • IPV enthalten Komponenten gegen alle drei Polio-Wildtypen, OPV können auch nur gegen einen Wildtyp wirken (World Health Organization, 2022).
    • Polio-Lebendimpfstoffe, die oral verbreicht werden, sind in Deutschland aufgrund des Risikos einer vakzinassoziierten Poliomyelitis (VAPP) und der Verbreitung von impfstoffabgeleiteten Polioviren („vaccine‐derived polioviruses“, VDPVs) seit 1998 nicht mehr empfohlen (Robert Koch-Institut, 2020).
       

    Impfstoffname

    Komponenten

    Zugelassen ab (Alter)

    Zusammensetzung

    Imovax Polio

    Polio

    3 Monaten

    • 40 D-Antigen-Einheiten Typ 1 (Mahoney)
    • 8 D-Antigen-Einheiten Typ 2 (MEF-1)
    • 32 D-Antigen-Einheiten Typ 3 (Saukett)
    • 12,5 µg Phenylalanin
    • 2 mg Ethanol
    • 2-Phenoxyethanol
    • Formaldehyd
    • Salzsäure/Natriumhydroxid
    • Medium 199

    IPV Merieux

    Polio

    3 Monaten

    • 29 D-Antigen-Einheiten Typ 1 (Mahoney)
    • 7 D-Antigen-Einheiten Typ 2 (MEF-1)
    • 26 D-Antigen-Einheiten Typ 3 (Saukett)
    • 12,5 µg Phenylalanin
    • 2 mg Ethanol
    • 2-Phenoxyethanol
    • Formaldehyd
    • Salzsäure/Natriumhydroxid
    • Medium 199

    Poliovaccine AJV

    Polio

    2 Monaten

    • 40 D-Antigen-Einheiten Typ 1 (Brunhilde)
    • 8 D-Antigen-Einheiten Typ 2 (MEF-1)
    • 32 D-Antigen-Einheiten Typ 3 (Saukett)
    • Medium 199


    Tabelle 3: In Deutschland zugelassene Einzelimpfstoffe gegen Poliomyelitis mit ihren Bestandteilen (Paul-Ehrlich-Institut, 2023).
     

    Impfstoffname

    Komponenten

    Zugelassen ab (Alter)

    Besonderheit

    Boostrix Polio

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio

    3 Jahren

     

    Hexacima

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, HiB, Hepatitis B

    6 Wochen

     

    Hexyon

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, HiB, Hepatitis B

    7 Wochen

     

    Infanrix hexa

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, HiB, Hepatitis B

    2 Monaten

     

    Infanrix-IPV + HiB

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, HiB

    2 Monaten

     

    Pentavac

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, HiB

    2 Monaten

     

    Repevax

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio

    3 Jahren

    Auffrischimpfstoff

    Revaxis

    Diphtherie, Tetanus, Polio

    5 Jahren

    Auffrischimpfstoff

    Tetravac

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio

    2 Monaten

    (derzeit nicht vermarktet)

    Vaxelis

    Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, HiB, Hepatitis B

    6 Wochen

     


    Tabelle 4: In Deutschland zugelassene Kombinationsimpfstoffe, die eine Komponente gegen Poliomyelitis enthalten. Die Tabelle spiegelt nicht unbedingt die aktuelle Marktsituation wider (Paul-Ehrlich-Institut, 2023).

    Geschichte

    • Neben den intramuskulär verabreichten Impfstoffen gibt es auch orale Impfstoffe (OPV), die lebende und vermehrungsfähige Polioviren enthalten.
    • Der erste OPV-Impfstoff, entwickelt von Albert Sabin, wurde 1959 zuerst großflächig in Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei eingesetzt, wohingegen der erste IPV-Impfstoff 1955 in den USA lizensiert wurde.
    • Ursprünglich enthielten die OPV-Impfstoffe abgeschwächte Viren gegen alle drei Wildtypen. Mittlerweile gelten aber Wildtyp 2 (seit 2015) und Wildtyp 3 (seit 2019) als ausgerottet (Robert Koch-Institut, 2021).
       

    Chronologie

    1949

    Das Poliovirus wird erstmals in menschlichem Gewebe gezüchtet (John Enders, Thomas Weller, Frederick Robbins)

    1954

    Inaktivierter Impfstoff, entwickelt durch Jonas Salk, wird an 1,6 Millionen Kindern in Kanada, Finnland und den USA getestet

    12. April 1955

    Der erste IPV-Impfstoff wird lizensiert

    1955-1957

    Die Zahl der Polio-Fälle fällt von 58.000 auf 5.600 pro Jahr

    1958-1959

    Zusammen mit russischen Virologen wird der erste OPV-Impfstoff von Albert Sabin an insgesamt 140.000 Kindern aus der Sowjetunion und der Tschechoslowakei getestet

    1959-1960

    Ungarn und die Tschechoslowakei sind die ersten Länder, die mit der Impfung des OPV-Impfstoffes beginnen

    1961

    Monovalenter OPV-Impfstoff (Typ 1, 2 oder 3) wird lizensiert

    1963

    Trivalenter OPV-Impfstoff (Typ 1, 2 und 3) wird lizensiert

    1988

    Die „Global Eradication Initiative“ (Initiative zur Ausrottung der Kinderlähmung) wird gegründet

    1994

    Amerika gilt als poliofrei

    1995

    Massen-Impfkampagnen in China und Indien werden gestartet

    2000

    Die Westpazifik-Region gilt als poliofrei

    2003

    Polio ist nur noch in 6 Ländern endemisch

    2006

    Polio ist nur noch in 4 Ländern endemisch

    2009

    Bivalenter OPV-Impfstoff (Typ 1 und 3) wird lizensiert

    2014

    Süd-Ost-Asien gilt als poliofrei

    2015

    Polio-Wildtyp 2 gilt als ausgerottet

    2019

    Polio-Wildtyp 3 gilt als ausgerottet

    2020

    Afrika gilt als poliofrei

    2021

    Weltweit werden nur zwei Poliofälle registriert, je einer in Pakistan und Afghanistan

    2022

    Es werden weltweit insgesamt 28 Wildvirus-Infektionen gemeldet (in Pakistan, Afghanistan und Mosambik), in London und New York wurde das Polio-Virus in Abwasserproben detektiert

    2023

    Bisher erst ein gemeldeter Fall in Pakistan


    Tabelle 5: Geschichte der Impfstoffentwicklung gegen das Poliovirus und dessen Verbreitung weltweit (Robert Koch-Institut, 2021; World Health Organization, 2023a).
     

    Neuartige orale Polioimpfstoffe

    • 2020 hat die WHO einen neuen oralen Polioimpfstoff gegen den Typ 2 (nOPV2) auf die Liste für den Einsatz in Notfällen (EUL) gesetzt, um die Ausbreitung von cVDPVs zu stoppen. Die bisherigen intramuskulär verabreichten IPV-Impfstoffe können das Problem nicht lösen, da sie keine Immunität im Darm erzeugen. Der neue Impfstoff besteht ebenso wie die originären OPV-Impfstoffe aus Lebendviren. Diese seien jedoch an 5 verschiedenen Stellen genetisch verändert, was sie unanfälliger für eine Mutation machen würde – ausgeschlossen werden könne es jedoch nicht. Weiterhin wird von einer geringeren Ausscheidung der Viren über den Stuhl ausgegangen (Deutsches Ärzteblatt, 2020).
    • Seit März 2021 wurde der nOPV2-Impfstoff mehr als 650 Millionen Kindern in 30 Ländern verabreicht. In Nigeria und der Demokratischen Republik Kongo wurden bereits vier Fälle von Rückmutationen bestätigt. Als Gründe dafür wurden unter anderem die schlechtere Überwachung der Polio-Fälle im Zuge der COVID-19-Pandemie, Katastrophen und Konflikte sowie das Warten einiger Länder auf den neuen Impfstoff anstatt die Verwendung des älteren Impfstoffes genannt (Nature, 2023).
       

    Wirksamkeit

    Nicht-Lebend-Impfstoffe (IPV)

    • IPV-Impfstoffe verhindern nicht die Ausscheidung von Polio-Viren. Sie können keine Herdenimmunität erzeugen (Macklin et al., 2019).
    • Zwei Impfungen sind ausreichend. Eine dritte Impfung mit einem IPV-Impfstoff erzeugt keine Steigerung der Serokonversionsrate (Macklin et al., 2019).
    • Je später geimpft wird und je größer der Abstand zwischen den ersten beiden Impfungen ist, desto besser ist die Immunantwort. Bei einem Alter von mehr als 10 Wochen bei der ersten Impfung lag die Serokonversionsrate bei 80%, ein Zeitabstand von 9 Wochen führte zu etwa 90% Serokonversionsrate nach der zweiten Impfung (World Health Organization, 2022).
    • Eine Impfserie von drei Impfungen plus Booster sorgt vermutlich für eine lebenslange Immunität, auch wenn die Antikörperspiegel mit zunehmendem Alter abnehmen (World Health Organization, 2022).
       

    Lebend-Impfstoffe (OPV)

    • Geimpfte Menschen scheiden Polioviren für einige Tage über den Nasen-Rachenraum und für einige Wochen über den Stuhl aus. Dadurch werden Personen im gleichen Haushalt gleichzeitig „mitgeimpft“ (World Health Organization, 2022).
    • OPV erzeugen eine Immunität der Darmschleimhaut und können eine Herdenimmunität erzeugen, weil sie die Übertragung von Polioviren verhindern.
    • Weitere Vorteile: Sie sind günstig und einfach zu verabreichen (oral, zwei Tropfen, z. B. auf Zucker). Deshalb werden sie heute vor allem in Ländern mit geringem Einkommensniveau eingesetzt.
    • Sie bieten im besten Fall einen Schutz von 95%. Dieser ist jedoch von verschiedenen Faktoren abhängig, wie dem Ernährungsstatus, den mütterlichen Antikörpern, der Prävalenz von Darminfektionen, dem Kontakt zu OPV-Impflingen im Haushalt und der geografischen Lage (World Health Organization, 2022). In einkommensschwachen Ländern liegt der Schutz je nach Poliotyp somit nur noch bei 70-90% (Patriarca et al., 1991).
    • Die Impfung schützt lebenslang vor Lähmungen durch das Poliovirus (World Health Organization, 2022).
       

    Nebenwirkungen

    Nicht-Lebend-Impfstoffe (IPV)

    Häufigkeit

    Imovax Polio

    IPV Merieux

    Poliovaccine AJV

    Sehr häufig (≥ 1/10)

    Schmerz an der Injektionsstelle

    Schmerz an der Injektionsstelle, Fieber

     

    Häufig (≥ 1/100 bis < 1/10)

    Reizbarkeit, untröstliches Schreien, Schlaflosigkeit, Kopfschmerz, Benommenheit, Schwindel, Vertigo, Erbrechen, Übelkeit, Diarrhö, Myalgie, Arthralgie

    Reizbarkeit, untröstliches Schreien, Schlaflosigkeit, Kopfschmerz, Benommenheit, Schwindel, Vertigo, Erbrechen, Übelkeit, Diarrhö, Erythem an der Injektionsstelle, Myalgie, Arthralgie

    Hautausschlag, allgemeines Unwohlsein, Druckschmerz, Rötung und Schwellung an der Injektionsstelle, Fieber

    Gelegentlich (≥ 1/1.000 bis < 1/100)

    Verdickung an der Injektionsstelle

    Verdickung an der Injektionsstelle

     

    Selten (≥ 1/10.000 bis < 1/1.000)

     

     

    Lymphadenopathie, Überempfindlichkeit und anaphylaktische Reaktion, Hohes Fieber (≥ 40 °C)

    Sehr selten (< 1/10.000)

     

     

    Fieberkrämpfe, Kopfschmerzen, Schläfrigkeit, Vasovagale Synkope, Urtikaria, Arthralgie, Myalgie

    Unbekannt

    Lymphadenopathie, allergische oder anaphylaktische Reaktion bis zum Schock, Unruhe, Krampfanfälle, Fieberkrämpfe, vorübergehende leichte Parästhesie, Ausschlag, Urtikaria, lokale Reaktion an der Injektionsstelle (z. B. Ödeme, Ausschlag), grippeähnliche Symptome

    Lymphadenopathie, allergische oder anaphylaktische Reaktion bis zum Schock, Unruhe, Krampfanfälle, Fieberkrämpfe, vorübergehende leichte Parästhesie, Ausschlag, Urtikaria, lokale Reaktion an der Injektionsstelle (z. B. Ödeme, Ausschlag), grippeähnliche Symptome

     


    Tabelle 6: Unerwünschte Arzneimittelwirkungen der Einzelimpfstoffe gegen Poliomyelitis (Paul-Ehrlich-Institut, 2023).
     

    Lebend-Impfstoffe (OPV)

    • Lähmungen, wie bei einer Infektion mit dem Wildtyp (VAPP), die nach sieben bis 60 Tagen auftritt und mehr als 60 Tage anhält. Das Risiko beträgt in Ländern, die OPV verwenden, 3,8 Fälle pro einer Millionen Geburten (Platt et al., 2014).
    • VAPP tritt in Ländern mit hohem Einkommen meist bei Kindern unter einem Jahr und nach der ersten Dosis auf (Alexander et al., 2004).
    • In Ländern mit niedrigem Einkommen tritt VAPP bei Ein- bis Vierjährigen eher nach der zweiten oder weiteren Impfung auf (World Health Organization, 2022).
    • Impfstoffabgeleitete Polioviren (VDPVs) sind genetisch veränderte Varianten des Impfvirus. Sie können ausgeschieden werden und im Fall von „circulating vaccine-derived polioviruses“ (cVDPVs) andere Menschen infizieren, vor allem wenn in der Bevölkerung eine geringe Immunität vorliegt. Außerdem gibt es immunodefiency-VDPVs, die in Menschen auftreten, die keine Immunantwort auf die Impfung ausbilden können und ambiguous VDPVs, die weder in Menschen mit Immundefizient auftreten, noch zirkulieren (Polio global erdaication initiative, 2016).
    • Beim Übergang von OPV zu IPV Impfschemata kann es hilfreich sein, ein IPV-OPV-Impfschema anzustreben, um den Impfling durch die IPV vor den Lebendviren zu schützen und VAPP zu reduzieren (Ciapponi et al., 2019).
    • Kopfschmerzen, Bauchschmerzen, Fieber, Durchfall und Schwäche sind die häufigsten Nebenwirkungen. Manchmal kann es auch zu Lähmungen, asthmaähnlichen Symptomen (Nzolo et al., 2013), Meningitis, Enzephalitis, Krämpfen, transversaler Myelitis und Guillain-Barré-Syndrom kommen (Friedrich, 1998).
       

    Weitere Informationen

    • Die Immunisierung erfolgt im Kindesalter (s. STIKO Empfehlung) mit einer Auffrischung zwischen 9-16 Jahren. Im Erwachsenenalter ist keine weitere Auffrischung empfohlen. Für Reisende, die sich länger als vier Wochen in Ländern aufhalten, in denen das Wildvirus oder impfstoffabgeleitete Polio-Viren noch zirkulieren, gilt jedoch die Empfehlung einer Auffrischung zwischen einem Jahr und vier Wochen vor der Abreise. Länder, auf die diese Regelung zutrifft, sind:

      Afghanistan, Ägypten, Angola, Äthiopien, Benin, Burkina Faso, D. R. Kongo, Elfenbeinküste, Ghana, Guinea, Iran, Kamerun, Kongo (Brazzaville), Liberia, Malaysia, Mali, Niger, Nigeria, Pakistan, Philippinen, Sierra Leone, Sudan, Südsudan, Somalia, Tadschikistan, Togo, Tschad, Zentralafrikanische Republik (Kling et al., 2021).
       
    • Außerdem gibt es Länder, in denen bei Einreise aus polio-endemischen Ländern ein Impfnachweis erforderlich ist.

      Dazu zählen: Ägypten, Brunei Darussalam, Georgien, Indien, Iran, Irak, Jordanien, Katar, Libyen, Malediven, Marokko, Nepal, Oman, Pakistan, Philippinen, Saint Kitts und Nevis, Saudi-Arabien, Somalia, Syrien, Ukraine (Kling et al., 2021).
  • Polio: Die STIKO-Empfehlungen

    Die Empfehlungen

    • Die STIKO empfiehlt allen Säuglingen, Kindern und Jugendlichen eine IPV-Impfung, Jugendlichen und Erwachsenen wird zudem eine Auffrischimpfung empfohlen.
    • Dabei soll nach dem 2+1-Schema vorgegangen werden: 3 Impfstoffdosen in den ersten beiden Lebensjahren. Frühgeborene sollen weiter nach dem 3+1-Schema, vier Impfstoffdosen im Alter von 2, 3, 4 und 11 Monaten, geimpft werden.
    • Als vollständig immunisiert gelten nur Erwachsene, die im Säuglings- oder Kleinkindalter eine vollständige Grundimmunisierung sowie mit einem Abstand von 10 Jahren eine Auffrischimpfung erhalten haben. Ein späterer Zeitpunkt zur Grundimmunisierung nach Angaben der Hersteller wäre aber auch möglich.
    • Laut STIKO ist die Empfehlung solange notwendig, bis die Eradikation der Poliomyelitis erreicht ist und weltweit keine Polioviren mehr zirkulieren.

    (Robert Koch-Institut, 2022)
     

    Kritik an den STIKO-Empfehlungen

    • Bis 1998 war die OPV-Impfung durch die STIKO empfohlen, obwohl bei den Impfstoffen das Risiko für die Verbreitung von impfstoffabgeleiteten Polioviren (VAPP) gegeben war. Das Risiko einer VAPP wird vom RKI mit 1-2 Fällen pro eine Million Einwohner angegeben. Dadurch traten in den Folgejahren bis zu 3 VAPP-Fälle pro Jahr auf (Robert Koch-Institut, 2022).
    • Die Möglichkeit von erneuten Polio-Fällen ist in Deutschland nicht auszuschließen (Nationale Kommission für Polioeradikation in Deutschland, 2022). Durch die Verwendung der IPV-Impfstoffe seit 1998 ist zwar ein zuverlässiger Schutz vor Erkrankung gegeben, die fehlende Darmschleimhautimmunität ermöglicht jedoch die Infektion, Ausscheidung und Weiterverbreitung durch Geimpfte (Robert Koch-Institut, 2022).
    • Eines der genannten Risiken muss in Kauf genommen werden: VAPP oder Einschleppung und Weiterverbreitung von noch in endemischen Ländern zirkulierenden Polioviren. Somit ist keiner der bisher entwickelten Polio-Impfstoffe, sei es der OPV-Impfstoff oder der von der STIKO empfohlene IPV-Impfstoff, in seiner Wirkung optimal.
    • Die STIKO könnte daher eine Kombinationsstrategie (nach Knolle et al., 2004) mit dem neuartigen, stabileren nOPV2-Impfstoff evaluieren, um die Vorteile einer Grundimmunität und Darmschleimhautimmunität zu verbinden und so einen Herdenschutz zu erreichen. Diese Evaluation sollte jedoch auch die wahrscheinlich baldige Eradikation des Serotyps WPV1 und damit aller zirkulierenden Wildtypen berücksichtigen. Dies würde, wie das RKI selbst schreibt, eine Impfung gegen Polio obsolet machen (Robert Koch-Institut, 2022).
  • Literaturverzeichnis

    Alexander, L. N., Seward, J. F., Santibanez, T. A., Pallansch, M. A., Kew, O. M., Prevots, D. R., Strebel, P. M., Cono, J., Wharton, M., Orenstein, W. A., & Sutter, R. W. (2004). Vaccine policy changes and epidemiology of poliomyelitis in the United States. JAMA, 292(14), 1696–1701. https://doi.org/10.1001/jama.292.14.1696

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    Deutsches Ärzteblatt. (2020, Dezember 30). Polio: Neuer oraler Impfstoff soll Ausbreitung von pathogenen Impfstoffviren stoppen. aerzteblatt.de. https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/119264/Polio-Neuer-oraler-Impfstoff-soll-Ausbreitung-von-pathogenen-Impfstoffviren-stoppen

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Stand: 4. Juli 2023
Nächste Aktualisierung: 4. Juli 2024

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